»Der Mensch ist ein Abgrund, heißt es bei Büchner und Berg. Es schwindelt einem, wenn man hinabsieht. Regisseurin Amélie Niermeyer hat diesen Blick mit beinharter, eisiger, gnadenloser Konsequenz getan. Sie hat ihn mit den Augen, durch die Augen des Kindes kompromisslos anschaulich gemacht. Und der kleine Elias hat das offenbar instinktiv 90 pausenlose Minuten lang erspielt, dass es einem beim Zuschauen den Atem verschlägt, die Kehle zuschnürt. Dieses Kind ist schlichtweg eine Sensation.
Es treibt, es trägt eine auch sonst sensationelle Aufführung. Musikdirektor Leo Hussain hat (…) im Landestheater die verkleinerte Orchesterfassung von John Rea gewählt. Das hat Konsequenzen für die Direktheit der musikalischen Rhetorik und die Durchhörbarkeit der Stimmen. Jeder Anflug eines gefühligen Sozialschauspiels, eines empathischen Mit-Erlebens wird wegretuschiert. Das Drama steht mit seinen Menschen nackt vor uns. Alban Bergs Musik, vom Mozarteumorchester großartig gehärtet, zugespitzt, expressiv pur gespielt, schneidet plötzlich wieder wie Messer ins Fleisch. Amélie Niermeyers Regie verstärkt diesen Gestus des Ungeschützten mit einer Genauigkeit der Menschenbeobachtung bis in kleinste Details, dass man »Wozzeck« wie neu sehen (und hören) kann.
Beglaubigt wird das alles auch durch ein formidables Ensemble an Singschauspielern, die sich mit schonungslosem Wagemut der radikalen Sicht anschließen. Leigh Melrose ist ein erbarmungswürdiger und doch nicht nur verzweifelt getriebener Wozzeck mit metallischer, aber nie scharfer Stimmenergie, die sich je länger je mehr auch menschlich warm abtönt und rundet. Frances Pappas singt und spielt eine selbstbewusst berührende, weder sich selbst klein(er) machende noch schrill ausgestellte Marie als vielschichtig-facettenreichen Charakter mit starker Stimme. Dietmar Kerschbaum als Hauptmann und Graeme Danby als Doktor sind weder Popanze noch Karikaturen, sondern schrecklich gewöhnliche, vielleicht aber gerade dadurch monströse Menschen, genauso wie der ohne falschen Zauber der Montur auskommende Tambourmajor (Franz Suppers Tenor erhält immer faszinierendes Gewicht).
Bis in die kleinsten Partien, vom Burschen Andres (Joel Sorensen) bis zum Narren (Philipp Schausberger), sind die Figuren präzise durchgezeichnet. Beispielsweise Emily Righter, die als Margret darstellerisch zur streng gouvernantenhaften Aufseherin aufgewertet ist, oder Hubert Wild, der 1. Handwerksbursch einen scharf skizzierten Barsänger gibt.
Famos auch der Chor. Allein der Übergang vom Wirtshausgegrölle zum Summchor im Soldatenschlafsaal ist ein kleiner szenisch-musikalischer Geniestreich.
So fügt sich »Wozzeck« im Salzburger Landestheater zu einem fordernden Musiktheater-Ereignis«, das für dieses Haus singulären Rang beanspruchen darf.«